Hrbek in Maulbronn
Es heißt, wer ein Gebäude zu beurteilen habe oder es betreten wolle, solle sich zunächst bewusst nähern. Distanz halten, um das Eigentliche wahrnehmen zu können. „Maulbronn, diese Perle unter den deutschen Klöstern“, schrieb Pfarrer Bassler einst, als es galt, dem zunehmenden touristischen Interesse an der Klosteranlage genüge zu tun, „ist auch im Winter schön, wenn der Schnee auf den Gesimsen und Pfeilern blinkt und dem grauen Gemäuer einen besonderen Reiz verleiht.“ „Noch schöner freilich“, so Bassler, sei es hier „im Sommer, wenn rings um das schöne Waldtal die Buchenwälder in saftigem Grün prangen und die Sonne mit ihren Strahlen wundersam die alten Hallen und Gänge vergoldet.“ Architektur, eine Gebäudefolge, die Klosteranlage, der Standort – all dies ist hier fast als Organismus skizziert. Überhöht natürlich in der Wortwahl, emphatisch und fast noch ein wenig den späten Romantik-Nachhall verratend. Wichtig aber bleibt die Hoffnung, aus dem bewusst Gesetzten möge sich etwas Lebendiges entwickeln, auch etwas Unerwartetes. Auf jeden Fall etwas So-noch-nicht -Gesehenes.
Es ist mithin jene Hoffnung, die uns vergleichbar in der Annäherung an künstlerische Äußerungen antreibt, bewegt. Das Bekannte wollen wir dort gerade nicht – weshalb übrigens manche Diskussion um das gegenwärtige Theaterschaffen von dem Irrtum ausgeht, der Mensch wolle geistig unterfordert sein. Was aber können und müssen wir umgekehrt von einer Kunst erwarten, über die Arnold Bode, Begründer der Weltkunstschau Documenta in Kassel bereits 1959, zur D 2, schrieb: „Die Kunst unserer Tage ist nicht mehr von außen bedroht, sie bedroht sich selbst“ – aus Bodes Sicht, weil sie „beliebig“ und „austauschbar“ geworden sei. Wenn aber das doch von Willi Baumeister so vehement beschworene „Unbekannte“ sich schon vor 50 Jahren selbst diskreditiert hatte, was blieb dann, was bleibt dann jenes, das wir hoffen mehr zu sehen, wenn wir aufmerksame Gäste in jenem Gebäude sind, das wir Welt nennen?
Bei Kafka heißt es: „Es gibt einen Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt. Dieser Punkt ist zu erreichen.“ Bleibt also doch dieses, die Kunst‘? In all ihrer Widersprüchlichkeit? In all ihrer Anfälligkeit auch, heroisch, dekorativ, gesellschaftspolitisch, kommerziell oder auch nur Kunst identifizierend beziehungsweise Kunst diskreditierend missbraucht zu werden?
„Es ist ein wunderbares Gefühl“, sagt der Maler Petr Hrbek, „in sich selber die heiße Lava wie auch zugleich das Wasser zu sein.“ Und: „Es scheint zwar unmöglich, aber in meinen Bildern fühle ich mich manchmal wie ein Zauberer, der diese beiden gegensätzlichen Elemente verbinden kann.“ Acht Jahre ist diese Äußerung alt, doch scheint sie im Sommer 2006 Hrbeks Wollen präziser zu beschreiben denn je. Und gerade in der bewussten Annäherung an das konsequent Amorphe liegt nicht zuletzt auch eine Begründung für die Begegnung mit Hrbeks Bildern in Maulbronn. Wohl geordnet scheinen die Bildaufbau-Dinge noch in dem Großformat „xnxnx xnxn“, das wir vor wenigen Minuten erst als fast ein wenig irreführenden Auftakt dieser Hrbek-Ausstellung Gesehen und erlebt haben. Denn wie anders begegnen uns hier, in der Asperger Gallery, die neuen Arbeiten Hrbeks. Die Welt ist scheinbar in Unordnung geraten, in Auflösung begriffen, in einem Strudel gefangen, in dem sich mit uns die absonderlichsten Organismen in die Tiefe zu drehen drohen. Das erinnert an viele Momente der Literatur, an klassische wie an Reflektionen der Moderne und der Gegenwart. Mitunter packt ein Jugendbuch unserer Tage all diese Streiflichter in ein Dickicht der Gedanken und Ereignisse. Um eine Doppelexistenz geht es, um einen jugendlichen Helden, der sich einem, seinem gespiegelten Herz ausgesetzt sieht, zwei Menschen, zwei Welten in sich vereinigt fühlt. Es gibt einen Moment in diesem Buch, in dem eine kleine Schar (wie stets in solchen Geschichten) in einem kleinen Boot in ungewisser, dunkler, ahnungsvoller See dümpelt und plötzlich aus der Tiefe, sekundengleich aber doch von überall her „Federfische“ aus dem Wasser und auf das Boot mit seiner Schar zustürzen. Die Helden retten sich, in dem sie sinnbildlich Zeit und Raum, überwinden. Der Maler indes, der sich hier ebenfalls mit hunderten von Federfischen konfrontiert sieht, ist Gefangener ihrer (ja von ihm selbst provozierten) Bewegung. Ihr muss er folgen, soll sein Bild im ureigen malerischen Sinn wahr sein – „nur die Unwirklichkeit“, wusste die Schriftstellerin Unica Zürn, „hebt das Gesetz der Distanz auf‘.“ „Es geht mir unter anderem darum“, sagt Petr Hrbek, „das Unterbewusstsein rauszuholen“. Glaubt er wirklich daran beziehungsweise versteht es der Künstler so, wie wir diesen Satz verstehen würden? Man darf getrost zweifeln. So wie sich die Zwillinge in einem Körper auf eine Klärung zubewegen. Unausweichlich. Auch ein anderes Wort muss man sehen, um es zu hören und zu verstehen. Und mit sehen meine ich die Umsetzung im Arbeitsprozess. „Ich bin jetzt an dem Punkt, an dem ich auf die Ekstase zusteuere“, sagt Hrbek wenige Tage vor der Ausstellung. Fertige, abgeschlossene, aber noch nicht als „fertig“ autorisierte Bilder, Anfänge und Bildstadien unterschiedlichster Art begegnen sich, stehen sich in seiner Werkstatt im Stuttgarter Westen buchstäblich gegenüber. Das Viertel zwischen Bismarckplatz, Rötestraße, Ludwigstraße und Bismarckstraße ist Hrbeks Quartier, hier kann er mitten im Leben der kleinen Einzelhändler sein, auf der Straße Kaffee und Wein trinken – aber auch ebenso ganz für sich sein, akzeptiert allein sein. Und so ist wohl auch das Wort von der „Ekstase“ zu verstehen – nicht als ein sich der Malerei Ausliefern, sondern als Stufe jener letzten Gewissheit, dass dieses Bild so, jenes auf ganz andere Weise zu beenden sei. Es ist mithin ein Moment der höchsten Kontrolle, um den es geht – und schließlich auch um jenes uralte Ringen technisch versierter Maler, das handwerkliche Können zu verwischen und doch gerade in den Fragen einer bildnerischen Konzeption, der Ausbildung kleinster Figurationen, wie wir sie bei Petr Hrbek finden, unmissverständlich die Präzision aufscheinen zu lassen. Wenn sich Hrbek dabei die Wiedererkennbarkeit, die doch seine vertikalen Farbstämme und Gerüste garantierten, nunmehr nahezu gänzlich versagt, gehört auch dies in das von Hrbek selbst provozierte Spannungsfeld, der Konzeption die Erkennbarkeit zu nehmen. Noch einen Kaffee? Danke. Aber das muss ich noch zeigen. Ein Bildanfang. „Ein Höllenschlund, ein Frauenkörper“, eine ovale Form. Und dann, einen, nein zwei Arbeitsschritte weiter, die Umkehrung: Nur mehr Strahlen. Das, was durchbricht, was sich Bahn bricht.
Petr Hrbek hatte früh Erfolg im Südwesten, konnte sich seiner Farbbahnen wie seiner Farbwälder sicher sein. Nach draußen drängten sie gar folgerichtig, alles überwachsend, was sich an Malgrund anbot. Hat er sich, der doch als Entwurzelter in Stuttgart neuen Halt fand, zu schnell eingerichtet in diesen Bildwelten? Die Wurzeln, die seine jüngeren und auch diese neuen Bilder hier zeigen, sind anderer Natur, sie sind erkämpft – wenn nötig auch gegen die Federfische, wenn sie allzu sehr nur Gestalt annehmen. Hrbek ist bei sich angekommen, in dem er sich neu in Frage gestellt hat, die Frage nach dem, was Malerei ist und will, aus der Geschichte der Malprozesse heraus neu zu beantworten sucht. Indem er sich nicht zuletzt jene barocke Kraft zugesteht, die der Europäer Petr Hrbek in sich trägt. Vertraut sich der Maler Hrbek aber heute wirklich ganz und gar? Die kleinsten Formate könnten vielleicht Auskunft geben. Verräterisch genug ist diese Spielfläche, erstritten oder eilig berührt zu sein. Ein eigenes Vokabular sucht Petr Hrbek in diesen aquarellhaften Studien noch. Klar aber ist, dass er auch hier auf vormalige Stützen, und damit auch Stützen der Wiedererkennbarkeit verzichtet. Das heißt nichts anderes, als dass hier einer ist, der inmitten einer auf Stützenfolgen angewiesenen Medienwelt das Risiko des Verzichts eingeht, und einer, der inmitten einer neuen Nationalstaatdebatte einem Begriff und Wesen nachspürt, das man kaum mehr zu benennen wagt: die Peinture als Entwurf einer nicht der Geste, sondern dem Farbwesen selbst vertrauenden Malerei. „Noch schöner freilich“, so sagte es Heinrich Bassler, sei es in Maulbronn „im Sommer, wenn rings um das schöne Waldtal die Buchenwälder in saftigem Grün prangen und die Sonne mit ihren Strahlen wundersam die alten Hallen und Gänge vergoldet.“ Noch klarer wird uns dies, das sollte deutlich geworden sein, durch das Wesen der Kunst, dessen Unbedingtheit. Dass somit gerade an diesem dem Glauben verpflichteten Ort deutlich wird, dass die Welt ohne die Kunst unvollständig sein würde, wie es Conrad Fiedler einst formuliert hat, danken wir an diesem Tag Petr Hrbek und seinem Schaffen, dem wir im großartigen Moment des Aufbruchs begegnen.
Nikolai B. Forstbauer
10. Juni 2006