Petr Hrbek im Katalog: „Stuttgarter Bilder 2001-2002“, Südwestbank AG Stuttgart und Asperger Gallery

Meinen Eltern, dem Westen oder wie ich begann, ein richtiger Künstler zu werden

Auf der Höhe der Gutenbergstraße 70, dort wo heute der Lidl blüht, ist es im Hinterhof im dritten Stock einer rotgeziegelten Fabrik passiert. Ich war 16 und fing an, Kunst zu studieren. Zwei Jahre davor, 1969, hatten meine Eltern und ich unweit in der Bismarckstraße 52 bei Vaters Tante Josefine die erste Nacht in der Emigration verbracht. Eine große Wohnung in einem behäbigen Bürgerhaus, die diesen Teil Stuttgarts so einmalig macht.

Tante Josi war schon fast 80 Jahre alt – trank gut und gerne bis zu 10 Fläschchen Bier pro Tag – und seit dem Tod ihres Mannes, das muss wenige Jahre nach dem Krieg gewesen sein, hat sie das Haus nicht mehr verlassen. Sie war schlecht zu Fuß und wenn sie sich trotzdem entschied, den Weg aus ihrem herrschaftlichen Sessel zur Toilette anzutreten, nahm sie einen Staubwedel zur Hand und trotz ihres unsicher beschwerten Ganges sang oder pfiff sie fröhliche Melodien und staubte das präparierte, an der Wand hängende Krokodil ab, das ihr Mann Hans noch vor dem Krieg am Nil erlegte. Sein elfenbeinfarbener Tropenhelm hing daneben und im ausgeschabten Elefantenfuß darunter stocherten lang unbenutzte Herrenschirme.

Onkel Hans war Nazi, trug ausschließlich weiße, steife Krägen und aß dazu noch kein Pferdefleisch, wie Tante sagte. Tante Josi war für mich die lustigste Dame der Welt, wie sie in ihrem parfümierten Biotop saß und um die Wette mit ihrem Kanarienvogel Hansi trillerte. An den Wänden hingen die unterschiedlichsten Gemälde, die meisten mit Barockrahmen versehen. Am besten gefiel mir das Bild „Südliche Dolomiten der Ostalpen bei Meida im Fassatal im Rosengartengebiet mit Monte Campitello 3001 m in Südtirol“, 1937 von Meier-Gerben, München.

Das Bild war riesig und mit soviel in Spachteltechnik aufgetragener Ölfarbe angefertigt, dass es nur an einer einem Seil ähnelnden, zum Bersten angespannten Schnur am gewaltigen Haken halten konnte. Und so sicher über 20 Jahre. Ich war beeindruckt. Später erkannte ich, dass dies eines der schlechtesten Bilder von allen war. Damals mit 14 wünschte ich mir unbedingt einen Ölmalkasten mit Spachtel, um genau dieses Bild so richtig abzumalen. Eigentlich wollte ich Basketballprofi oder zumindest Sportlehrer werden. Ich wurde, wie es im Osten üblich war, als „Talentierter“ in einer Sportschule gefördert, allerdings habe ich mir im Kunstunterricht auch den Ruf erworben, der beste „Abzeichner“ von ausgestopften Vögeln zu sein.

Wir blieben bei Tante Josi. Die Sommertage waren drückend heiß in Stuttgart. Meine Eltern haben schnell Arbeit gefunden und auch für mich sind die außergewöhnlichsten Ferien meines Lebens zu Ende gegangen.

Ich wurde über Caritas in eine katholische Internatsschule in Schwäbisch Gmünd vermittelt. Dort sollte ich mich unter Anleitung an die neue Gesellschaft, an den anderen Kulturkreis gewöhnen und die Sprache lernen. Mein erstes Zimmer teilte ich anfangs mit Istvan Feher aus Ungarn – der konnte auch kein Wort Deutsch und wir verständigten uns in unserem Schulrussisch. Unser Sportlehrer war gleichzeitig auch fürs Zeichnen, Malen und Basteln zuständig. Ich glaube, den habe ich damals ziemlich gefordert. Er stand aber trotzdem zu mir, obwohl ich ein bisschen besser als er mit dem Ball wie auch mit dem Stift zaubern konnte. Ich wurde befördert.

Ich bekam ein Einzelzimmer. Ich bekam noch mehr Pickel. Ich wurde 15 und sollte vorerst über die Mittlere Reife, die ich mir an der nächstgelegenen Handelsschule erwerben würde, meine Zukunft sichern.

Zwar verstand ich jetzt einigermaßen Deutsch, weigerte mich aber zu sprechen. Es war schon seit der Vorpubertät in der Tschechoslowakei so, dass ich in angespannten Situationen viele Silben kaum aus der Kehle kriegte. Ich stotterte. Manchmal halfen Tricks – oft gar nichts. In Deutschland war es genauso. Aber ich hatte meinen Sport, meine Stifte, mein Einzelzimmer und meine Taschentücher. Und jetzt noch diese Schule dazu. Als ich im Stenografieunterricht beim allerersten Diktat blanke Blätter abgab, war die Verwunderung groß, denn bis dahin hatte ich alle Stenokürzel so gut abzeichnen können. Ab dem Diktat habe ich keine Tricks mehr gewusst. Ich arbeitete nächtelang an Hausstrafarbeiten, dazwischen schrieb ich Woche für Woche Briefe in die Heimat, wo meine Tricks irgendwie immer ausreichten! Ich wusste nicht weiter und sie merkten es, Gott sei Dank.

Ich wurde von dieser Schule befreit. Was habe ich mich geschämt. Als bald der Internatsleiter mit einer Caritasmitarbeiterin aus Stuttgart in mein Zimmer kam und die mit Zeichnungen voll bestückten Wände sah, sprach die Frau etwas von einer Freien Kunstschule in Stuttgart, die in der Nähe der Wohnung meiner Eltern liegen würde. Ja, ja, der Junge soll’s mit der Kunst probieren!

„G-g-g-guten Tag – mein Name ist Petr Hrbek.“
„Dobrý den“, sagte der Leiter, Herr Neisser, zurück, schaute sich meine Mappe an und ich durfte bleiben im dritten Stock einer ehemaligen Fabrik in der Gutenbergstraße 70. Und wie hingegeben ich am Anfang dasaß, vor allem beim Aktzeichnen, das Zeichenbrett immer auf dem Schoß, und es dauerte über ein Semester, bis ich meine Kommilitoninnen mit ihren Vornamen anzusprechen wagte.

Die Eltern fanden Arbeit bei der Firma Bleyle. Den Bewegungsradius des Alltages lebte ich im Stuttgarter Westen aus, und wie konnte ich damals ahnen, dass es trotz des häufigen Ausbüchsens, der vielen Reisen und Auslandsaufenthalten immer wieder der Stuttgarter Westen werden sollte. Die Freie Kunstschule zog leider ans andere Ende Stuttgarts. Ich habe trotzdem bei Tante Josi noch so manches Bierchen getrunken, wir wohnten ja noch bei ihr. Als dann Hansi im Winter starb – ich habe es vor Augen, wie sie das Kreuz schlug, den großen Kachelofen aufmachte – Hansi knisterte ein wenig – Ofen zu.

„Petja, da hast du einen Zwanziger, gehe schnell zum Wasilewski um die Ecke und bring mir einen hübschen Neuen.“ Als ich da durch den großen Gang am ausgestopften Krokodil vorbei hinauslief, hörte ich ihren operettenartigen Gesang: „Glücklich i-ist, der verg-i-isst, w-a-as nicht mehr zu ä-ändern i-ist“, und schallendes Gelächter.

Ein Jahr später, nach einem wunderbaren österlichen Braten meiner Mutter, wurde Tante Josi am Tag darauf gelb – auch sang sie nicht mehr. Sie musste ins Diakonissen Hospital. Ich besuchte sie immer nach der Schule. An einem Tag fiel verirrt der letzte Schnee auf Stuttgart. Eine Schneekugel habe ich ihr an diesem Tag geschenkt. Sie sprach nicht mehr – lächelte aber sichtlich, als die Kugel in ihrer kleinen, fiebrigen Hand wegschmolz. Ich bin nach Hause. Wir wohnten jetzt Ecke Johannes-Lindenspür-Straße. Als ich die Wohnung betrat, klingelte das Telefon fürchterlich laut. Tante Josi war tot.

Wir mussten wieder umziehen, bekamen aber die tollste Wohnung, die wir je hatten, im obersten Teil der Rotebühlstraße. Man konnte in der Badewanne liegend den ganzen Kessel Stuttgarts überblicken. Ich fühlte mich wie Oskar Kokoschka und habe es auch mal aus dem Fenster versucht. Ich konnte nicht lange üben, der Hausbesitzer meldete Eigenbedarf an und wir mussten wieder ausziehen. Wohin? Wir haben Glück und finden eine Wohnung in der Bismarckstraße. Nein, nicht 52. Diesmal ist es die 58.

Heute, knapp 30 Jahre später, sitze ich in meinem Atelier in der Bismarckstraße 58. Das Wohnzimmer!

An den Wänden vibrieren jetzt „Elementare Unlösbarkeiten“ aus Acryl mit Simons Monsterzeichnungen um die Wette. Spät in der Nacht schreibe ich diesen Text. Die Augen fallen mir zu und ich sehe den gespachtelten Monte Capitello vor mir – hoffentlich reißt das Seil nicht – ich höre die Mutter singen und den Vater zählen, ich rieche den festlichen Braten und lausche dem Sprachgewirr der späten Stunden. Ich bin wieder im Stuttgarter Westen zu Hause.

Petr Hrbek
Stuttgart, 15.08.2002