Lieber Petr Hrbek!
Liebe Sammler und Freunde der Galerie, meine Damen und Herren!
Eines Abends im August des Jahres 1964 war der Lyriker Paul Celan auf einem kleinen Schloss in den Hügeln der Dordogne zu Gast. Seinen Gastgebern widmete er das Gedicht „Le Wrigord“. Dieses Gedicht ist in höchst subtiler Weise ein Ausdruck des Andenkens an streunende Hunde oder an südliches Licht, an Hölderlins Wanderwege oder an Celans ferne Heimat in der Bukowina. Dabei ist in jeder Metapher eine Erfahrung verborgen. Im Dichter finden alle diese zu sich selbst zurück. An diesem Abend sagte Celan zu seinen Gastgebern: „Je suis la poesie!“ – Ich bin die Dichtung!
Erinnern Sie sich, lieber Petr Hrbek, wie wir das erste Mal miteinander telefonierten? Ich fragte: „Wie malen Sie? Schlafend oder in wachem Zustand? Halten Sie Kunst für das Leben oder das Leben für die Kunst?“ Künstlichkeit. Das ganze Leben, verbracht in ein Bild. „Ich male gern“, sagten Sie. „Ich male gern“, dieser Bildtitel ist wie die Zigarettenreklame „Ich rauche gern“. Malen und Rauchen, beides eine Sucht. Sammeln, Betrachten, auch das eine Sucht. „Ich male nichts anderes, als was ich male!“ – „Wie lange brauchen Sie für ein Bild? Wieviel verdienen Sie dabei? Die Leinwand- und Farbkosten?“ – „Das hier, es gibt da ein Bild“, sagten Sie, „das hier sind Hirsche, die springen, und meine Pinselstriche.“ Was war zuerst? Malen Sie in Acryl? „Ja, ich male Acryl, ich bin Acryl, und ich bin gut.“ Ach so, ja: „Je suis la poesie“.
In dem Bild „Madame B.“, wie Butterfly, ist eine Dame mit Federschirm in einem festlichen Kleid zu erkennen. Eine Rückenfigur. Den Oberkörper hat sie leicht zurückgeneigt, den linken Arm erhoben, die Hand schützend vor die Augen gehalten. Die Figur versucht, einen Schritt zu machen. Aber sowohl der Weg ins Bild, als auch der Weg zurück gelingen nicht. Der Bildraum, facettiert, d.h. zerlegt in kleine Raumeinheiten, die jeweils selbständig handeln: sich verschieben, sich dehnen, trennen, neu zusammenfinden, gerät in Vibration. Die Wirkung des Bildes erinnert an die konkav-konvex-gewölbten Bronzen von Constantin Brancusi, die hochpolierten, auf deren Oberfläche sich die Umgebung der Skulptur reflektiert. Auch der Betrachter selbst spiegelt sich darin. Vorgetäuscht wird dabei der Umraum als Innenraum der Skulptur. Hrbeks Bilder haben viel davon und auch etwas von der Kostbarkeit der Skulpturen Brancusis. Ihre Formensprache ist hermetisch verschlüsselt.
Hrbek wurde in Tschechien geboren, in einer kleinen Stadt 130 km nördlich von Prag, 30 km südlich der „Schneekoppe“ an der Elbe. 1969 floh er mit seinen Eltern in die Bundesrepublik. Hier, zunächst Sprachlehrgang im Internat, eine schreckliche Zeit, wie er sagt. Dann Handelsschule. Körperlicher und seelischer Zusammenbruch. Er macht Zeichnungen, viele Zeichnungen. Die heilen. 1971 kommt er auf die Freie Kunstschule Stuttgart. Sein Lehrer: Sie, sehr verehrter Herr Neisser. 1973 wird er zum Studium an der Akademie zugelassen: Malklasse Professor Mansen, bis zum 12. Semester. Danach die Frage, die essentiell: Kann er, ein junger Künstler, der gerade sein Studium beendet hat, einfach weitermalen, wie es Generationen von Malern vor ihm getan haben? Ist das möglich, ohne formal erschöpfend und weltanschaulich kompromittierend zu werden? – Hrbeks Entscheidung: Ja, er kann.
Gleich nach der Akademie wird Hrbek in den nationalen und internationalen Ausstellungsbetrieb eingebunden. 1983 ist er Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg, 1985 der Cité des Arts in Paris, 1987 des Kunstfonds, Bonn. 1992/93 hat er einen Gastlehrauftrag für Malerei an der Akademie Stuttgart. 1985 erhielt er den Kunstpreis „Junger Westen“ Recklinghausen, eine sehr hohe Auszeichnung, die für Malerei nur alle 10 Jahre vergeben wird. Damit verbunden sind neue Einladungen zu Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen. 1989, nach der „sanften Revolution“ wird er vom tschechischen Staat gebeten, bei der Ausstellung „Künstler im Exil“ in Südtschechien teilzunehmen. 1995 hat er in Prag die erste Einzelausstellung. Eine zweite Einzelausstellung dort zu seinem 40. Geburtstag. Den Geburtstag feiert er in Prag. Derzeit läuft eine Gemeinschaftsausstellung mit Camill Leberer, Koichi Nasu, Werner Pokorny im Haus der Kunst in Brünn (Tschechien). Diese wird nächste Woche nach Prag wandern. Petr Hrbek ist vielleicht die Gegenfigur des Heimatvertriebenen. Er ist der, dessen Ort nirgends ist und überall, denn seine Bilder, mit ihren vielfachen Brechungen von Licht, Raum und Fläche bringen eine bemerkenswerte Offenheit zum Ausdruck. Tatsächlich ist Hrbeks Bereich nicht der umzirkte Raum der Besonderheiten. Die gedachte Wirklichkeit erfährt er nur als Weg, man könnte auch sagen, als Teil der eigenen Biographie.
Seit Einbruch der Moderne am Vorabend des Ersten Weltkriegs gibt es eine Malerei, die sich selbst zum Thema hat. „The medium is the message“, sagt McLuhan in den sechziger Jahren. Wieso dieser Szenenwechsel? Woher diese Selbstbespiegelung der Kunst, man könnte auch mit Ernst Bloch sagen, dieser neue Narzissmus. Warum heute diese Gleichzeitigkeit von Künstler und seinem Werk? – Paul Celan spricht von der Einsamkeit der Kunst, „Das Gedicht“, sagt er, als er 1968 den Georg-Büchner-Preis erhielt, „ist einsam und unterwegs.“ Erinnern Sie sich, liebe Kunstfreunde, an die großen Einsamen der Moderne?: Gauguin in Tahiti, der Rumäne Constantin Brancusi in Paris, der Russe Ossip Zadkine in Paris, während der Okkupation in den Vereinigten Staaten, Paul Celan, der Auschwitz entkommen, Octavio Paz, der in seinem berühmten Essay „Das Labyrinth der Einsamkeit“ (deutsch 1991) Mexiko „auf der Suche nach sich selbst“ beschreibt? Einerseits Bewusstsein unserer selbst, andererseits Sehnsucht nach Befreiung von uns selbst. „Ich will ein solcher werden, wie ein anderer gewesen ist!“, stottert Kaspar Hauser in Peter Handkes Bühnenstück. „Man selber sein, heißt, sich zur Verkrüppelung verdammen, denn der Mensch ist die ständige Begierde, ein anderer zu sein“, zitiert Octavio Paz Antonio Machado und schreibt dann: „Angstvoll läuft der Mensch und sucht jenen anderen, der er selber ist. Und nichts kann ihn zu sich selbst zurückbringen als der Salto mortale: die Liebe, das Bild, die Erscheinung. Darum macht er (der Künstler) Gedichte, Bilder, in denen er sich verwirklicht und vollendet, ohne jemals sich ganz zu vollenden. Er selber ist ein Gedicht.“
„Je suis la poesie.“ – „Ich bin Acryl.“
Immer wieder arbeitet Petr Hrbek mit Spiegelung, Verzerrung, Entzerrung. Hier das Bild „Im Angesicht des Lebens“: Der Künstler zitiert ein kleines Detail aus Hans Holbeins d.J. Bild „Die Gesandten“. Dieser Gegenstand: Ein Totenschädel, ist von Holbein selbst schon verzerrt dargestellt und hat den Kunsthistorikern und Ikonologen so manches Rätsel auferlegt. Für Hrbek ist er Motiv und Vorwand einer Reihe formaler Prozesse, wie Verkleinerung, Zerstückelung, Vergrößerung, Dehnungen, Spiegelungen und räumliche Brechungen. Zuletzt wird der Gegenstand, jetzt wie ein riesenhafter Kokon aussehend, schützend verhüllt und bandagiert. Durch diese Formprozesse gelingt in phantastischer Weise die Metamorphose vom Totenschädel zum Bild des Künstlers mit dem Titel „Im Angesicht des Lebens“. Deutlich wird, dass für Hrbek die gedachte Wirklichkeit nur erfahrbar ist als Weg. Hinausgeschleudert in die Nacht, von der wir nicht wissen, ist sie das Leben oder der Tod, Freude oder Trauer, Liebe oder Angst, Licht oder Finsternis, verfolgt er sein Ziel: totale Offenheit, eine Freiheit, die sich selbst entwirft. Der Salto mortale rettet ihn vor dem Stillstand.
Eine stilistische Entwicklung in seinem Werk? Ja, ganz sicher: Waren es früher die Wirkungen der Farben, deren optisches Vibrieren und deren chromatische Reaktionen, die ihn beschäftigte, so ist es heute der Rhythmus der Farben:
Das Bild „Vierzig“, gemalt zum eigenen vierzigsten Geburtstag und das Bild „Kleiner Geburtstag“ zeigen auf besondere Art und Weise: Es ist nicht die Zeit der Uhren, die der Rhythmus widerspiegelt. Es ist die Zeit, die sich im Augenblick verwirklicht. Farben, das sind Jahre, weil wir ja sterblich sind! Das Bild nimmt sich selbst zurück, und es verweist auf den, der es geschaffen hat: „Ich bin Acryl!“
Meine Damen und Herren,
„Stricherlebnisse“, „Fruchtläufe“, „Falsches Licht“, „Tiefer aufgerichtet“, „Die sandigen Farben der schönsten Kriege“, „Nein, saures Gold“, „Diamantsamtraum“, „Nestloch“ … Schon die Bildtitel bringen es an den Tag: Die Welt des Petr Hrbek ist eine ganz besondere. „Nestloch“ – Lochnest: In der Mitte des Bildes: ein schwarzes Loch, das sich, wenn man das Auge darauf richtet, verflüchtigt und wieder zurückkehrt und doch nur eine schwarze Fläche ist, verbrannt, wie ausgeschnitten, gehalten von zwei „Schlauchstrichen“, wie Hrbek sagt. Wolfsrachen, ach nein, nur Fläche, Ebene und drum herum das Gestrüpp, wie kleine Fischlein, herumliegend, sich bewegend, sich windend, weich und samtig, wie die vielen kleinen Häkchen in der Luftröhre, betrachtet durch das Endoskop. Nestloch – Innenraum, der Außenraum ist. Nicht Komposition, nicht kalkuliert und doch nicht unmittelbar, wild und brutal. Dennoch beängstigend. Aber das Bild: Eine höfische Pretiose. „Diamantsamtraum“. Wer so mit den Räumen jongliert wie er, Petr Hrbek, der muss ein Minnesänger sein, der muss es können. Und er kann es. Oft liegen bis zu 25 Farb- und Lasurschichten übereinander, wie bei den mittelalterlichen Meistern. Hrbek spielt mit seinem Könne, und er reizt es voll aus. Und alles so luftig und ohne Gewalt. Vom Kunstgenuss könnte auch die Rede sein. Aber die Rede ist von der Sucht nach Kunst: „Ich male gern!“ Können wir, die Betrachter, sagen: „Wir schauen gern“? Mit den Augen fixieren, auf einer Form verweilen, ihre Schwingungen begleiten, Absprung, Drehung, Sturz, zusehen, wie die Wirklichkeit für einen Augenblick entrückt. Die Rede ist vom Salto mortale. Die Rede ist fernerhin von der Sucht des Malens. Und die verhält sich proportional zur Sucht des Sammelns.
Meine Damen und Herren, lieber Petr Hrbek. Ich danke Ihnen.