„Im Angesicht des Lebens“ – Petr Hrbek im FORUM KUNST Rottweil am 26.08.1994
Erinnern Sie sich an Kunst? Meine Damen und Herren: Vergessen Sie’s. Anstelle der üblichen-unverständlichen-Wortspiele wäre heute Abend eher ein Wort aus der Bibel angebracht:
Wehe dem, der da wandelt über verdeckte Gräber und ahnte es nicht.
Deswegen: „Im Angesicht des Lebens!“ Vielleicht ahnen Sie es schon: Eine Seiltänzerei wird’s heute Abend. Obwohl ich zugeben muss, dass Kunst und vor allem Künstler mir eher nach Gleichgewichtsstörungen aussehen, denn als Equilibrismus. Auch wage ich nicht, mir meinen Freund Petr Hrbek auf dem Hochseil vorzustellen – obwohl der Gedanke entzückt – braucht es auch nicht: Er ist auf ebener Erde vom Absturz bedroht: Wer in kennt – und ich kenne ihn bald 25 Jahre – der weiß, was es heißt, wenn er seine Ausstellung „Im Angesicht des Lebens“ nennt. Nicht als Reaktion auf die letzte Ausstellung – allein der Bezug kann einem Freudentränen in die Augen treiben, sondern seine Haltung ist es, sein Verständnis von Kunst und Leben, sein Versuch einer wahrhaft barocken Synthese, sein alchimistisches Experiment mit einem antipostmodernen Amalgam. Seine Bereitschaft, sich vollständig zu verausgaben im Leben wie in der Kunst. Dies kann er in gewissen Zuständen auch sprachlich so auf den Punkt bringen, dass man ihn nur zitieren kann: Den Zusammenhang zwischen einem bollito misto, Geschlechtsverkehr und der Unfähigkeit, danach auch noch Kunst zu machen, erklärte er mir auf einer Autofahrt: „Ich habe nicht nur geschmeckt wie dieser bolito misto, ich war einer!“ Und neckisch fragen die Äuglein über den Brillenrand: „Weißt du, wie man sich da fühlt?“
Es ist die Bedingungslosigkeit, mit der er sich seiner Sinne bedient. Aller Sinne. Die besorgte Beobachtungsgabe für alle seine Organe, vor allem der unsichtbaren, und deren wahrsagefähigen mehr oder weniger unordnungsgemäße Funktion. Der Zusammenhang zwischen den von ihm entdeckten psychosomatischen Flatulenzen und seinem Frühwerk. Die ständige Besorgtheit um die richtige Höhe, für den gehörigen Fall. Seiltanz, wie gesagt, auf ebener Erde. Soviel zu der psychischen Gestimmtheit, die er braucht, um Höchstleistungen zu bringen. Lassen Sie mich von einer solchen Leistung berichten: Wer in den letzten Wochen nicht erlebt hat, wie Petr Hrbek arbeitet, dem ist diese Mischung aus Hochleistungssport und anarchistischer Disziplin nur schwer mitzuteilen.
Die sechs mal sechs Meter große Leinwand wurde zum Arbeiten auf den Boden getackert. Das bedeutet, dass der Künstler – selbst bei Kontrolle von der Empore aus – immer nur einen perspektivisch verzerrten Eindruck von seiner Arbeit bekam. Auch eine barocke Arbeitssituation: eine Art Bodenfesko. Dahinter steckt ein grundlegendes künstlerisches Kalkül. Denn Verzerrung ist ein wichtiges Handlungsprinzip dieser Ausstellung. Doch davon später mehr.
Diese Riesenfläche – übrigens das größte Bild, das Petr Hrbek je gemalt hat – wurde mit mehreren Gelb-Schichten aus Acryl und Pigment überzogen. Ein unglaubliches Meer entstand. Diesem pigmentär-reinen Leuchten musste er nun die ersten Farbbahnen entgegensetzen. Sie hätte es erleben sollen, mit welchen Ausreden und Finten er sich dem Anfangen entzog. Tagelanges Umschleichen des Beginns. Wie er sich selbst aufgeilte und hochquälte, ist von existentieller Konsequenz. Die traumwandlerische Sicherheit, mit der jedes Mal landet, ist auch nach diesen drei Wochen nur mit der Fähigkeit zu vergleichen, in einem Zustand, der bei anderen ins Koma führte, nicht nur sein Atelier wiederzufinden, sondern auch noch darin zu arbeiten: Der Ausschluss außer persönlicher Wirklichkeiten, um ins Bild eintauchen zu können. Schamanismus und alkoholische Ekstasetechniken.
Mann kommt wieder, es ist geschafft, wie meistens hat’s die Nacht gebracht: Bis acht Meter lange Kreuzlagen schweben in transparenten Überschneidungen über dem gelben Sog. Genau das ist entstanden: eine Sogwirkung, die ihn von diesem Augenblick an nicht mehr loslassen wird, die er verstärkt, unterbricht, lenkt … und er wird erst zufrieden sein, wenn ein Strudel entstanden ist, mit dem er kämpfen kann. Nur ist es diesmal nicht eines seiner kleineren Bilder, denen man sich durch Wegdrehen (auch wenn nur körperlich) entziehen kann: es ist eine Malstrom. Und ab einem bestimmten Aggregatzustand der Farb-Bild-Materie hatte ich immer wieder die Befürchtung, mein Freund könnte eines Nachts aus diesem Farbozean nicht mehr zurückkehren. Arthur Gorden Pym winkt weiß und einsam herüber.
Dieses Spiel hat etwas von der nach innen gerichteten Spirale. Je näher der Eröffnungstermin rückte, desto dichter und tiefer wurde das Bild, aber auch das Risiko wurde immer größer. Das Bild muss an einem Punkt für beendet erklärt werden, wird auf einen Rahmen gespannt und aufgerichtet. Wird das Bild halten; wird es diesem extremen Raum nicht nur standhalten, sondern ihn auch neu definieren, so wie wir es bei Dieter Krieg und Magdalena Jetelová erleben konnten?
Es wird Zeit, wie versprochen, auf das Konzept dieser Ausstellung zu sprechen zu kommen. Petr Hrbek kennt das FORUM KUNST seit Jahren, hat im Bürgersaal viele Ausstellung gesehen. Und war doch erschrocken, als er – wohlgemerkt mit ausgefeiltem Konzept und Modell – allein war mit diesem Raum. Denn eine Ausstellung im Bürgerraum bedeutet Extremkletterei ohne Seil. Die Initialzündung war ein Bild Hans Holbein des Jüngeren, „Die Gesandten“, ein 207 x 209 Zentimeter großes Gemälde aus dem Jahre 1533. Eines der geheimnisvollsten Bilder, das wir kennen. Zwei Männer, französische Gesandte, 1531 in Sondermission von König Franz I. an den englischen Hof geschickt. Einer davon, Jean de Dinteville, hat dort an Hochzeitsfeierlichkeiten Heinrichs VIII. mit Anne Boleyn teilgenommen, anderen Hinrichtungen übrigens auch. Hör ich da eine Nachtigall?
Auf dem Bildboden liegt – und das Wort „unvermittelt“ scheint hierfür gemacht – ein zerrgespiegelter Totenkopf. Oh vanitas vanitatis.
Diesen Spiegel hielt sich Petr Hrbek vor in Erinnerung am Auf- und Eingang zum FORUM KUNST. „Die Treppensituation, das Hochsteigen, der schräge Blick beim Eintreten“, sagte er, „das war’s.“ Nichts anderes als dieser Kopf konnte es sein. Frei nach Fabris Motto: Alles nochmal, alles etwas kleiner, hat er diesen Schädel von einer postkartengroßen Abbildung auf sechs Meter gezogen und verteilt auf vier Stufen getreppt. Dem schreitenden Betrachter muss dieses Bild als ersten Blick aufzwingen, wo er ist, wie hoch er gekommen ist. Es kann nur noch kippen. Er steht jetzt auf dem Seil, eine Raumdiagonale zieht ihn zum Fenster. Ein Bild, wie von Riesenhand nach dem Spiel beiläufig abgestellt, droht den Raum zum Kippen zu bringen. Der Raum klammert sich ans Bild, der Betrachter dreht sich: keine Rettung ein kleines Bild aus der Macht der Gedärme: Die Farben der glühenden Leberhölle. Man fühlt, was Gottfried Benn meint, wenn er sein Leben wiegt:
Im Sturz
und traumbetäubt
Hier stürzt einer ab, ein Leben lang, reißt mit Händen und Zähnen Stücke aus dem Fleisch des Seins, hält sich für das Leben, das Leben für Kunst, die Kunst für den Sinn …
Bacons ewig stummer Schrei nach Erlösung. Stöhrers Erkenntnis, die Schönheit wird konvulsivisch sein oder sie wird nicht sein.
Petr Hrbeks spasmische Farbmeere über die in spermatischen Schüben Blaulichtblitze mit Farbdonner vor dem Hintergrundsgrollen des unsäglichen Verglühen. Auf den Bildern und hinter der Farbe, hinter dem Leben, das schwarze Rauschen der Nacht.
Gerd Hartmann, Rottweil 1994